Ein Plädoyer für NoCovid von Walter Ricciardi erschienen in „Avvenire“ am 28.02.2021.

Teile diesen Beitrag in deinen sozialen Netzwerken!

Walter Ricciardi ist Professor für Hygiene und Präventivmedizin und wissenschaftlicher Berater des italienischen Gesundheitsministerium für die Coronavirus-Pandemie.

Übersetzung von Bruno Capra für „Sichere Bildung JETZT“ Dank der freundlichen Genehmigung von Prof. Dr. Walter Ricciardi und Roberto Morelli.

Covid. Ricciardi: Schließungen, Grenzen, Quarantänen … Wie wir aufhören, dem Virus hinterher zu laufen

Von Walter Ricciardi

Nur mit Massenimpfungen (die unentbehrlich sind und beschleunigt werden müssen) als alleiniges Instrument, wird es nicht möglich sein, die Herausforderungen der Pandemie zu meistern. 
Dies ist der erfolgreiche Weg, den einige Länder beschreiten:

Bisher wurde anstatt zu agieren nur reagiert. Anstatt vorzubeugen wurde nachverfolgt. Ein enormer Aufwand wurde betrieben, ohne dass die Gesellschaft davon profitieren konnte.

Erschüttert von der Grafik zur Sterblichkeit in Großbritannien und den Informationen, die ich direkt von den britischen Kollegen erhalten habe, warne ich, ungehört seit Oktober, vor einer Ausbreitung der ansteckenderen Varianten in Italien und deren dramatischen Folgen, die das Vereinigte Königreich bereits in die Knie gezwungen haben. 

Sars-CoV-2 lässt kein Aufschieben zu, denn die Konsequenzen sind verheerend. Abgesehen von den Halbherzigkeit und Verspätung der bis jetzt getroffenen Maßnahmen, ist besonders besorgniserregend, dass sich die meisten Regierungen auf die Impfung als einzigen Ausweg aus der anhaltenden Pandemiekrise konzentrieren. 

Davon ausgehend, dass Massenimpfungen einen unausweichlichen Weg darstellen, der schneller bestritten werden muss, ist diese monothematische Haltung nicht sinnvoll. Impfstoffe bedürfen einer komplexen Produktions- und Vertriebstechnologie. Es wird Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis ein angemessener Schutz für die Weltbevölkerung gewährleistet ist. Sollte eine virale Mutation einen Impfstoff unwirksam machen, ohne dass wir die Möglichkeit haben, unsere Strategie umgehend zu korrigieren, würden wir möglicherweise nicht einmal einen Ausstieg aus diesem Teufelskreis schaffen.

Einige hegen die gefährliche Illusion, dass es möglich sei mit Sars-CoV-2 leben zu können. Wie der französische Präsident und mehrere Präsidenten unserer Regionen kürzlich äußerten, sei dies eine „neue Normalität“, die es ermögliche, Gesundheit und Wirtschaft in Einklang zu bringen. 

Die wissenschaftliche Evidenz zeigt jedoch, dass ein Leben mit dem Virus eine naive Illusion ist, die zu eine monatelange Destabilisierung unseres gesundheitlichen und psychologischen Zustands führen würde.
Zudem wäre es ein sehr gefährlicher Weg, der so Tür und Tor für tausende von Infektionen und Todesfällen öffnet.
Dies würde nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung hemmen, sondern auch dauerhaft das soziale Leben beeinträchtigen. Alle voran in den Schulen, wo ein dauerhaft zuverlässiger Betrieb nicht möglich wäre.

Es bedarf den Mut eines vorübergehenden „Lockdown“ (nach deutschem Vorbild), um dann mit dem Einrichten von grünen Zonen zu beginnen, in denen sich die Menschen frei bewegen, in denen Schulen offen sind und die Wirtschaft wieder in Schwung kommt.
Dann könnte man sofort zu Normalität zurückkehren.

Um den Bürgern innerhalb von wenigen Wochen wieder ein fast normales Leben zu ermöglichen, muss die Virusübertragung gestoppt werden.
Bisher haben sich nur wenige Regierungen für diese EXIT-Strategie entschieden und ein Gleichgewicht mit gleichzeitiger Begrenzung von wirtschaftlichen Schäden gefunden.

Anfangs waren es lediglich weit entfernte Länder: Australien, Neuseeland, Vietnam, China, Singapur und die Mongolei. Seit einigen Tagen taucht, noch etwas zaghaft, auch in Europa diese Idee auf. Den Anfang macht Deutschland, wo sowohl die Bundeskanzlerin als auch einige Ministerpräsidenten der Länder sowie die Bürgermeister wichtiger Städte wie Bonn und Köln beginnen, diese als „NoCovid“ bekannte Strategie zu analysieren und anzuwenden. 

Die Strategie basiert auf sechs Maßnahmen, die innerhalb von 5-6 Wochen in kompletten Ländern, aber auch Regionen oder Landkreisen, zur Verdrängung des Virus führen werden:

  1. Definition der „geschützten“ Gebiete, die vom Virus befreit werden sollen.
  2. Start einer Kommunikations- und Motivationskampagne zur Umsetzung der Strategie.
  3. Start eines Lockdowns von 4 bis 5 Wochen begleitet von unterstützenden Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft.
  4. Einrichtung von Isolations- und Quarantänewohnungen in Hotels und vergleichbaren Strukturen.
  5. Quarantäne für Reisende, die von außerhalb der Schutzgebiete kommen.
  6. Wiedereröffnung aller Aktivitäten in den virenfreien „grünen Zonen“ („green zones“).

Obwohl die No-Covid-Strategie erhebliche Anfangsinvestitionen erfordert, bietet sie erhebliche Vorteile gegenüber der Alternative eines monatelangen Jo-Jos zwischen Schließungen und Teilöffnung begleitet von Tod, Krankheit und gesundheitlichen Langzeitschäden sowie der fortschreitenden Verarmung eines signifikanten Anteils der Bevölkerung. 

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Einschränkung der Mobilität, insbesondere des nicht notwendigen Reisens, ein entscheidender Aspekt der No-Covid-Strategie ist, die es den virenfreien Ländern ermöglicht, mit Einreise-Sperrungen, die erzielten Vorteile zu bewahren.

Das bisherige Fehlen von Quarantäneverfahren für ankommende Reisende bedeutet einen erneuten Import von Fällen, der ohne restriktive Maßnahmen vor Ort wieder für eine Virus-Ausbreitung sorgt.

Genau das beobachten wir in Europa und den Vereinigten Staaten, während in Asien und Ozeanien, aber auch in Kanada und in einigen amerikanischen Staaten die No-Covid-Strategie allmählich anfängt Wirkung zu zeigen. 

All dies verlangt nach Überzeugung und konsequenten Entscheidungen seitens der Regierungen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass nicht jeder Regierende die Vision, Führungskraft und Entschlossenheit dazu hat, wäre auch ein „Bottom-up“-Prozess denkbar, der von Städten, Provinzen, Regionen oder Ländern initiert und gefördert wird, die bereit sind alles Notwendige zu tun, um dem Virus den Nährboden zu entziehen.

Der häufigste Einwand gegen die No-Covid Strategie ist, sie funktioniere nur auf den Inseln, da es nicht möglich sei, 100% der Reisenden, die in ein Schutzgebiet ankommen, aufzuhalten: Die Mongolei, Vietnam, die atlantischen Provinzen Kanadas und der US-Bundesstaat Washington sind allesamt Länder mit nennenswerten Landgrenzen, die es dennoch geschafft haben,  Infektionen nahezu vollständig zu verhindern. Auch wenn eine Compliance von 100% ideal wäre, würde selbst eine Beschränkung von 90-95% der Ankünfte von außerhalb, die Infektionsrate drastisch reduzieren und eine Test- und Rückverfolgungsstrategie ermöglichen, um die geringe Anzahl von Restfällen zu nachhaltig zu managen. 

Das wäre der Plan Deutschlands, das nach einem Lockdown von mehr als zwei Monaten zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie darum gebeten hat, die Freizügigkeit der Bürger auch im Schengen-Raum auszusetzen, um die Nachverfolgung zu gewährleisten und die Inzidenz auf 10 Fälle pro 100.000 zu reduzieren. Dänemark, Finnland und die baltischen Länder scheinen diesem Beispiel zu folgen. 

Nach diesem Vorgehen können in den „Grünen Zonen“, d.h. den Gebieten, die an mindestens 14 aufeinander folgenden Tagen keine Ansteckungen vor Ort aufweisen, Schulen, Restaurants, Museen, Kinos, Theater und Handel ohne Einschränkungen wieder geöffnet werden. Auch ohne einen massiven Schutz durch Impfung.

Sollten die „Grüne Zonen“ sich über mehrere Länder ausweiten, könnte die Bewegung der Menschen in diesen Gebieten wieder ohne Einschränkungen stattfinden, wodurch die Mobilität sowohl für Unternehmen als auch für den Tourismus wiederhergestellt wird. Gegenwärtig ist die „green-zone“ Australien-Neuseeland die bekannteste. Es kommen bereits weitere hinzu, wie die „green zones“ im Westen Kanadas und in Europa, die in Estland, Lettland und Litauen.

Die unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung einer No-Covid-Strategie ist eine massive Informationskampagne. Diese muss den Bürgern verständlich machen, dass die  Bekämpfung des Virus innerhalb weniger Wochen möglich ist. Das erfordert aber die überzeugte Mitwirkung der gesamten Gesellschaft. Es muss deutlich erklärt werden, warum eine solche Strategie das Leben der Menschen verbessern wird, der Lockdown eine vorübergehende Maßnahme ist und es bei einer aktiven und überzeugten Beteiligung der Bevölkerung möglich sein wird, innerhalb weniger Wochen zur Normalität zurückzukehren. Lange vor dem Abschluss einer Impfkampagne, die bestenfalls noch einige Monate dauern wird. 

Unentbehrlich ist die finanzielle Unterstützung für diejenigen, die durch den Lockdown oder Quarantänemaßnahmen geschädigt werden. Unser Land befindet sich wie ganz Europa an einem Scheideweg: Einerseits ein harter, aber zeitlich begrenzter Weg, der die Gewissheit gibt, innerhalb weniger Wochen zur Normalität zurückzukehren. Andererseits Unsicherheiten, Krankheit, Tod, finanzielle und intellektuelle Verarmung. 

Wenn wir Corona nur auf evolutionärem und biologischem Terrain bekämpfen, können Viren uns jahrelang in Schach halten und uns schwere Niederlagen zufügen. Wenn wir jedoch denken und die richtigen Entscheidungen treffen, werden wir sie besiegen.Werden wir es tun?


Diese Artikel ist am 28.02.2021 auf avvenire.it erschienen.
Link zum original Artikel: https://www.avvenire.it/attualita/pagine/walter-ricciardi-ecco-come-smettere-di-inseguire-il-coronavirus