Offener Brief an die Kanzlerkandidat:innen, Kultus- und Familienminister:innen (Begründung)

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Sichere Bildung für Kinder und Jugendliche – JETZT!

Nach mehr als anderthalb Jahren Pandemie schuldet die Politik den Kindern und Jugendlichen derzeit vor allem eines: Solidarität und Schutz.

Kinder haben

  • alle Maßnahmen mitgetragen, um die Gesellschaft zu schützen und nun verdienen sie denselben Schutz.
  • Schulschließungen hinnehmen müssen, obwohl es von Expert:innen erarbeitete Konzepte für einen pandemiesicheren Schulbetrieb und Konzepte zur Sicherung des Kindeswohls distanzbeschulter Kinder gab. Diese Konzepte liegen den Kultusminister:innen seit einem Jahr vor, wurden aber leider nicht umgesetzt.
  • sich gefragt, warum die Digitalisierung ihres Unterrichts seit 4 Jahren als Thema für Wahlkampfplakate dient („Das Digitalste an Schulen darf nicht die Pause sein“), aber nicht effektiv in die Tat umgesetzt wird. Und sie haben sich gefragt, warum viele Schulen immer noch keine Infrastruktur für Distanzunterricht haben, obwohl das bereits seit 21 Jahren gefordert wird1.
  • bei Minusgraden in Klassenzimmern gefroren, weil die Anschaffung von Luftfiltern von den Kultusminister:innen auch dann noch als unnütz und zu teuer bezeichnet wurde, als deren eigene Arbeitsplätze bereits längst damit ausgestattet waren.
  • eine Vielzahl von Sorgen geäußert. Darunter auch Sorgen um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familien. Aber diese Sorgen wurden nicht gehört.

Letzteres mag daran liegen, dass zu Beginn der Pandemie zunächst nicht klar war, inwiefern auch Kinder und Jugendliche von COVID-19 betroffen sind. Inzwischen gibt es Erkenntnisse dazu und diese machen deutlich, dass sich Bildung und Gesundheitsschutz nicht länger ausschließen dürfen.

Kinder brauchen beides. Sie brauchen verlässlichen Unterricht. Aber dafür darf nicht hingenommen werden, dass COVID-19-Infektionen sich weiterhin ungehindert unter ihnen ausbreiten (Abb. 1), denn das wäre sowohl im Hinblick auf das Kindeswohl als auch aus epidemiologischen Gründen unverantwortlich.

Abb. 1: nach Altersgruppen aufgeschlüsselte Inzidenzen (Quelle: https://semohr.github.io/risikogebiete_deutschland/ Stand: 02.09.2021)

Schulen brauchen wissenschaftlich fundierte Infektionsschutzkonzepte

Die von der Universität Princeton durchgeführte und bisher wohl größte Kontaktverfolgungsstudie mit über 575.000 Menschen hat gezeigt, dass Kindern im Pandemiegeschehen eine zentrale Rolle zukommt2. Wie wir inzwischen wissen, stecken sie sich genauso wie Erwachsene an und können das Virus auch ebenso wie diese weitergeben. Aber im Unterschied zu Erwachsenen kommen sie täglich über mehrere Stunden hinweg in großer Zahl auf relativ engem Raum ohne effektiven Infektionsschutz zusammen und genau das erhöht das Ansteckungsrisiko. Dementsprechend haben sich Schulschließungen auch als eine der effektivsten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erwiesen3.

Auch die Zwischenergebnisse der von der Kultusministerkonferenz selbst in Auftrag gegebenen – wenn auch methodisch4 leider durchaus fragwürdigen – Studie5 zeigen, dass das Ansteckungsrisiko in Schulen 2- bis 4-mal höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Es handelt sich also nicht lediglich um ein so genanntes allgemeines Lebensrisiko, sondern geht deutlich darüber hinaus.

Vor allem vor dem Hintergrund der Ausbreitung ansteckenderer Virus-Varianten wie der aktuell vorherrschenden Delta-Variante, die eine ähnliche Ansteckungsfähigkeit aufweist wie die Windpocken und sich bereits bei flüchtigem Kontakt übertragen kann6. Dies begünstigt Masseninfektionen an Orten, an denen viele ungeimpfte und nicht ausreichend geschützte Menschen zusammenkommen und das betrifft derzeit vor allem Schulen.

Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet hat kürzlich eine Stellungnahme von Expert:innen veröffentlicht, die darauf hinweisen, dass es aber aus mehreren Gründen keine Option ist, solche Masseninfektionen in Kauf zu nehmen7. Dazu zählen unter anderem epidemiologische Gründe, denn eine derart breite Durchseuchungsstrategie fördert die Entstehung impfresistenter Varianten, was letztendlich wieder zu Einschränkungen für alle Altersgruppen führen wird.

Darüber hinaus warnen die Wissenschaftler:innen in ihrer Stellungnahme davor, dass solche Masseninfektionen eine ganze Generation dem Risiko bleibender und derzeit in ihrem Ausmaß noch nicht absehbarer gesundheitlicher Schäden aussetzen. Schäden, die sowohl zu vermeidbarem persönlichem Leid führen als auch zu langfristigen Belastungen des Gesundheitssystems und der Wirtschaft. Eine Reihe deutscher Expert:innen teilt diese Einschätzung.8,9,10,11,12

Die Kultusminister:innen haben dagegen in den vergangen Monaten immer wieder die Neigung gezeigt, solche und andere wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Öffentlichkeit bewusst falsch darzustellen13 und sich ausschließlich mit Expert:innen zu treffen, die ihren Kurs unterstützen, wie es zuletzt beispielsweise in Schleswig-Holstein der Fall war14.

Dort hat die Infektionsschutzreferentin des Gesundheitsministeriums, Anne Marcic, behauptet, dass eine Infektion für jüngere Kinder die einzige Möglichkeit sei, sich zu immunisieren. Das ist faktisch falsch, denn es befindet sich bereits ein Impfstoff für unter 12-Jährige in Entwicklung und steht kurz vor der Zulassung. Es gibt also in absehbarer Zeit eine Alternative und Eltern sollten – generell, aber vor allem im Falle eines Virus, der zu momentan noch unzureichend erforschten Folgeschäden führt – die Möglichkeit haben frei zu entscheiden, auf welchem dieser beiden Wege sich ihre Kinder immunisieren.

Der Infektiologe Jan Rupp hat in dieser Expertenrunde zudem behauptet, dass es eine gute Studie gebe, der zufolge Kinder mit Long Covid die gleichen Depressionssymptome aufweisen wie Kinder ohne Long Covid. Gemeint ist damit die Studie von Stephenson et al. (2021)15, in der rund 7.000 Jugendliche im Alter von 11-17 Jahren mit und ohne positivem PCR-Test nach anhaltenden Symptomen befragt wurden. Herr Rupp erwähnt allerdings leider nicht, dass in dieser Studie – über die das Herausgeberjournal (British Medical Journal, BMJ) um einiges differenzierter berichtet16 – jede/r 7. Jugendliche mit positivem Testergebnis von Long Covid betroffen war und 3 Monate nach der Testung deutlich häufiger an Müdigkeit, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit, Geruchsverlust, Appetitverlust und/oder weiteren beeinträchtigenden Symptomen litt als die Jugendlichen der Kontrollgruppe. Das entspricht über 14%. Wie in so vielen Studien wurde außerdem auch in dieser offenbar nicht genauer nach den Ursachen der depressiven Verstimmung gefragt. Diese Ursachen können gerade während einer Pandemie immerhin sehr unterschiedlicher Natur sein – unter anderem kommen Lockdown-Auswirkungen, Sorgen vor Ansteckung aufgrund mangelhafter Schutzkonzepte, Symptombelastung durch Long-Covid und/oder durch die Infektion ausgelöste psychoneuroimmunologische17 Effekte in Frage. Auch Wechselwirkungen zwischen all diesen Faktoren sind möglich.

Neben der selektiven Beauftragung von Expert:innen wird von den Kultusminister:innen auch selektiv auf Studien Bezug genommen, die gar keinen Aufschluss über die aktuelle Gefährdung der unter 12-Jährigen geben. Zu diesen Studien zählt zum Beispiel die Publikation von Loske et al. (2021)18, die pünktlich zum Ende der Sommerferien veröffentlicht wurde und zu dem Ergebnis kam, dass Kinder durch eine starke anti-virale Immunität der Atemwege vor einem schweren Covid-19-Verlauf geschützt seien. Die in dieser Studie untersuchten Nasenschleimhautzellen von 42 Kindern und Jugendlichen im Alter von bis zu 17 Jahren wurden allerdings nicht von der Forschungsgruppe selbst entnommen, sondern es wurde auf drei Stichproben zurückgegriffen, die über einen relativ langen Zeitraum erhoben wurden. Ein Zeitraum, während dem die deutlich infektiösere Delta-Variante noch nicht bzw. kaum verbreitet war, so dass diese Studie aus mehreren Gründen wenig über die aktuelle Situation aussagt.

Ein weiteres Beispiel ist die Studie von Molteni et al. (2021)19, die zu dem Schluss kam, dass Kinder 6 Tage nach einer Covid-Infektion wieder völlig gesund sein sollen. Diese Einschätzung basiert allerdings auf Symptomfragebögen, die von den Eltern oder anderen Bezugspersonen ausgefüllt wurden. Aus anderen Forschungsbereichen ist bekannt, dass es deutliche Unterschiede zwischen den von Eltern wahrgenommen und den bei ihren Kindern tatsächlich vorhandenen Symptomen gibt und zwar in dem Sinne, dass Eltern die Anzahl und den Schweregrad der Symptome in der Regel unterschätzen. Auf diese Einschränkung weisen die Autor:innen dieser Studie auch selbst hin. Hinzu kommt, dass nicht alle Folgeschäden, die zu langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können, sich als sichtbare Symptome bemerkbar machen (z.B. herabgesetzter Hirnstoffwechsel oder Schädigungen kleiner Blutgefäße).

Kindeswohl muss an erster Stelle stehen

Es ist zwar korrekt, dass Kinder vergleichsweise selten im Krankenhaus oder auf der Intensivstation behandelt werden müssen und selten ein lebensbedrohliches Syndrom entwickeln, das unter den Abkürzungen PIMS oder MIS-C bekannt ist. Zum einen ist dabei allerdings zu bedenken, dass der Begriff „selten“ seine Bedeutung verliert, wenn es das eigene Kind trifft. Im Fall von PIMS bzw. MIS-C erkrankt jedes tausendste infizierte Kind auch ohne Vorerkrankungen und nach nur milder oder symptomloser Infektion einige Wochen oder sogar mehrere Monate später an diesem lebensbedrohlichen Syndrom. Bei einer Masseninfektion, wie sie derzeit in NRW zugelassen wird, wird demnach voraussichtlich auch die Zahl der PIMS-/MIS-C-Fälle in den kommenden Wochen und Monaten zunehmen. Zum anderen zeigen die Daten des RKI, dass die Hospitalisierungs-Inzidenz auch in der Altersgruppe der unter 12-Jährigen in den vergangenen Wochen deutlich zugenommen hat.20 Außerdem gibt es weitere gesundheitliche Folgen, die potenziell alle Kinder betreffen, die sich mit Covid-19 infizieren.

In der Studie von Diorio et al. (2020)21 hat sich beispielsweise gezeigt, dass alle im Rahmen der Studie untersuchten Kinder unabhängig vom Schweregrad des Verlaufs nach ihrer SARS-CoV-2-Infektion eine 6- bis 10-fach erhöhte Konzentration eines Biomarkers für Gefäßentzündungen und Mikrothrombosen aufwiesen. Ob und wenn ja, welche langfristigen gesundheitlichen Folgen sich aus diesem und ähnlichen Befunden ergeben, ist bisher noch nicht untersucht worden, was auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek inzwischen einräumt22. Zusätzlich kommt es bei Kindern, ähnlich wie bei Erwachsenen23,24, nach einer COVID-Infektion zu einer Häufung neurologischer Komplikationen25. Eine weitere aktuelle Studie zeigt außerdem, dass das Risiko für eine Herzmuskelentzündung bei ungeimpften Kindern unter 16-Jahren, die sich mit COVID-19 infizieren, um das 37-fache erhöht ist26 (also um ein Vielfaches höher als die nach der Impfung sehr selten auftretende Nebenwirkung).

Mittlerweile ist außerdem bekannt, dass Kinder ebenfalls an Long-Covid erkranken.27,28 Erste Studien dazu zeigen, dass es bei ihnen in ähnlichen Hirnarealen zu einer Verminderung des Stoffwechsels kommt, wie bei erwachsenen Long-Covid-Patienten29 (siehe Abb. 2). Betroffen sind unter anderem die Gehirnbereiche, die für das Gedächtnis, die Konzentration und für den Geruchs- und Geschmackssinn zuständig sind. Inzwischen gibt es auch Hinweise auf einen weiteren Biomarker, mit dem sich Long-Covid bei Kindern differenzialdiagnostisch abgrenzen lässt30. Die teilweise geäußerte Vermutung, dass Long-Covid nichts anderes als ein „Lockdown-Syndrom“ sein soll, ist also falsch.

Abb. 2: Bei C handelt es sich um eine PET-Aufnahme des Hirnstoffwechsels eines gesunden 10-jährigen Kindes. P1 bis P7 zeigen den Gehirnstoffwechsel von Kindern mit Long Covid (Morand et al., 2021, S. 5)

Eine weitere Forschungsfrage, die noch nicht abschließend geklärt ist, betrifft die tatsächliche Auftretenshäufigkeit von Long-Covid bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt eine Reihe von Studien, die teilweise auf sehr hohe Prozentzahlen kommen. Auf der Basis aktueller Daten aus Großbritannien31 und Kanada32 kann man davon ausgehen, dass aber mindestens 6 bis 8 Prozent aller Kinder nach einer Covid-19-Infektion Long-Covid entwickeln. Das klingt nach einer geringen Zahl – bis man sich ansieht, was sie in der Realität bedeutet. Während der NRW-Landtagssitzung vom 19.05.2021 wurde mitgeteilt, dass bis Mai 2021 bei über 135.000 Kindern in NRW eine Covid-19-Infektion nachgewiesen worden ist. Selbst bei konservativer Schätzung von 7 Prozent bedeutet dies, dass allein in NRW rund 10.000 Kinder von Long-Covid betroffen sind – wenn man sich das derzeit extrem schnell voranschreitende Infektionsgeschehen aufgrund der in NRW praktizierten Durchseuchungsstrategie ansieht, dann dürfte diese Zahl bereits deutlich höher liegen.

Die medizinische und therapeutische Versorgung dieser Kinder sieht allerdings derzeit leider noch sehr schlecht aus33,34, da die Kinderärzt:innen in Deutschland noch nicht flächendeckend über die aktuellen Erkenntnisse zu diesem Krankheitsbild, die neu hinzugekommenen Symptome und die Diagnostik- bzw. Differenzialdiagnostik informiert werden und manche dieses Syndrom deshalb zum Teil auch trivialisieren. In Jena35, München36 und Augsburg37 wurden inzwischen allerdings die ersten Long-Covid-Ambulanzen für Kinder eingerichtet und die Mediziner:innen, die dort arbeiten, warnen davor, dieses Syndrom bei Kindern zu unterschätzen38. In Großbritannien breitet sich die Delta-Variante schon einige Zeit länger aus als in Deutschland und dort richtet die oberste Gesundheitsbehörde aktuell für umgerechnet 118 Mio. Euro 16 pädiatrische Zentren für die Versorgung von Covid-Folgeerkrankungen und -schäden bei Kindern ein39. Hierzulande ist man davon noch weit entfernt. Zudem darf man nicht vergessen, dass in Deutschland seit Jahren ein Mangel an Intensivbetten für Kinder und Jugendliche besteht, was bei einer durch Masseninfektion verursachten Häufung seltener Syndrome wie PIMS/MIS-C unter Umständen ebenfalls zum Problem werden kann.40

Neben Long-Covid hat man bei Erwachsenen (auch jungen und nicht vorerkrankten) selbst nach symptomlosen und milden Verläufen außerdem inzwischen eine Reihe weiterer Folgeschäden festgestellt. Dazu gehören unter anderem Veränderungen der Blutzellen41, Veränderungen der Flexibilität der Halsschlagader mit entsprechender Erhöhung des Schlaganfall-, Aneurysma- und Herzinfarktrisikos42, strukturelle und physiologische Veränderungen des Gehirns, die das Risiko für Demenzen erhöhen43 sowie eine deutliche Abnahme kognitiver Fähigkeiten um durchschnittlich 7 IQ-Punkte44.

Derzeit weiß noch niemand, ob diese Folgen auch bei Kindern und Jugendlichen nach milden Verläufen auftreten und wenn ja, in welchem Ausmaß, weil es noch nicht untersucht wurde. Da es sich allerdings um Folgeschäden handelt, die man ohne eine gezielte Diagnostik gar nicht feststellen kann, die aber schwerwiegende Langzeitfolgen haben können (u.a. Schwerbehinderung und/oder verringerte Lebenserwartung), stellt sich die Frage: Warum werden Kinder nicht besser geschützt bis weitere Erkenntnisse dazu vorliegen? Wie fahrlässig das aktuelle Vorgehen ist, hat der amerikanische Kinderarzt, Dr. Greg Kelly, am 3. Juli auf Twitter mit den folgenden Worten zusammengefasst: As a pediatrician I’m going on record saying that allowing kids to be freely infected with a novel disease that has unknown long term consequences is the worst idea of 2021 despite being a pretty crowded field so far. Es gab 2021 eine Reihe schlechter Ideen, aber in Kauf zu nehmen, dass es unter Kindern zu einer Masseninfektion mit einem neuen Virus mit noch unbekannten Langzeitfolgen kommt, ist die wohl schlechteste.

Aus diesem Grund darf die Gesundheit der Kinder nicht weiter gefährdet werden. Weder durch den Bundestagswahlkampf noch durch die Weigerung der Kultusminister:innen, für die Finanzierung und Umsetzung effektiver Infektionsschutzmaßnahmen in Schulen zu sorgen (von denen die Kinder im Übrigen auch über die Pandemie hinaus profitieren würden). Es muss jetzt gehandelt werden.

Bildung und Gesundheitsschutz lassen sich vereinbaren

Kinder haben neben dem Grundrecht auf Bildung ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und es ist durchaus möglich, beide Grundrechte und darüber hinaus das ebenfalls im Grundgesetz und auch vielen Schulgesetzen verankerte natürliche Erziehungsrecht der Eltern zu wahren. Familien haben unterschiedliche Bedürfnisse45 und dem sollten die Verantwortlichen gerecht werden. Bildung und Gesundheitsschutz lassen sich durchaus miteinander vereinbaren. Für viele andere (wirtschaftsnahe) Bereiche wurden in kürzester Zeit große Summen mobilisiert. Das muss für Kinder, die immerhin die Zukunft unseres Landes sind, ebenfalls möglich sein.

Vor diesem Hintergrund fordern wir:

  • eine Aussetzung der Präsenzpflicht in allen Bundesländern, d.h. Eltern werden nicht gezwungen ihre Kinder dem Infektionsrisiko auszusetzen und entscheiden selbst, ob ihre Kinder die Schulpflicht in der jeweils aktuellen Lage per Präsenz- oder Distanzunterricht erfüllen (so wie es in Hessen bereits möglich ist); es wird zudem angeregt, die 1938 aus anderen Gründen eingeführte Präsenzpflicht, die es sonst in fast keinem anderen demokratischen Land gibt, mittelfristig wie in anderen Demokratien durch eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht zu ersetzen; bei dieser ist die Beschulung nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen der Lernenden; das ist insofern anstrebenswert, da es auch unabhängig von der Pandemie Kinder gibt, die stärker von anderen Beschulungsformen profitieren; zudem sind die Argumente für ein Aufrechterhalten der Präsenzpflicht inzwischen seit längerem widerlegbar und Deutschland wird bereits seit 2006 von der UN für die Aufrechterhaltung der Präsenzpflicht gerügt46
  • Recht auf Beschulung durch bereits etablierte Online-Schulen – und/oder wie es u.a. in Thüringen geplant ist – die Einrichtung einer staatlichen Online-Schule, über die die Schüler:innen bei Bedarf dem Lehrplan des jeweiligen Bundeslandes entsprechend individuell oder in virtuellen Klassenverbänden beschult werden können, sofern der Distanzunterricht nicht oder nicht in adäquater Weise durch die Stammschule umgesetzt werden kann
  • sichere „Studyhalls“ und Notbetreuungsangebote für Familien, die sich für Distanzunterricht entscheiden, aber externen Betreuungs- oder Beschulungsbedarf haben
  • Kohortenbildung und geteilte Klassen bei steigender Landkreis-Inzidenz in der jeweiligen Altersgruppe (vgl. Toolbox der europäischen No-Covid-Strategie)47
  • Raumluftreiniger mit HEPA-Filtern (mind. HEPA-13) für alle Klassenräume, ergänzend zu den vor Ort gegebenen Lüftungsmöglichkeiten, da die Effektivität des Lüftens auch bei vollständig zu öffnenden Fenstern von zu vielen weiteren Faktoren abhängt, die sich nicht beeinflussen lassen (Größe und Lage der Lüftungsflächen, Außentemperatur, Luftdruck, Windgeschwindigkeit, bauliche Besonderheiten des Raumes, Virenkonzentration…)
  • bei einer steigenden Landkreis-Inzidenz in der jeweiligen Altersgruppe in geschlossenen Räumen und im Freien Mund-Nasen-Schutz, sofern kein Abstand eingehalten werden kann (vgl. Toolbox der europäischen No-Covid-Strategie)47; dafür ist eine für den täglichen Gebrauch ausreichende Anzahl kindgerechter, schadstofffreier FFP-2-Masken (MNS) zu beschaffen, die von den Eltern erworben werden können; Familien mit niedrigem Einkommen sind diese Masken kostenlos zur Verfügung zu stellen
  • PCR-Tests (Lollitest) bei allen Schüler:innen und Lehrkräften (auch bei geimpften Personen, da sie im Infektionsfall grundsätzlich ebenfalls ansteckend sein können); aufgrund der Besonderheiten der Delta-Variante Erhöhung der Test-Anzahlauf 3x pro Woche48
  • Cluster-Quarantänen aufgrund der hohen Ansteckungsfähigkeit der Delta-Variante und aufgrund der zu berücksichtigenden Inkubationszeit; allerdings nicht mehr für 14 Tage, sondern nur für 5 Tage mit anschließendem Freitesten); vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zur Aerosolforschung und zur Infektiosität der Delta-Variante reicht es nicht aus, lediglich für die direkten Sitznachbar:innen oder gar nur für die infizierte Person selbst eine Quarantäne anzuordnen
  • Inner- und außerschulische transparente Kommunikation von Infektions- und Verdachtsfällen in Schulen (datenschutzkonform ohne Nennung von Namen – wie bei anderen Infektionserkrankungen in Schulen auch)
  • Infektionsschutzkonzepte für die Schulwege mit öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. Einsatz von Verstärkerfahrten im ÖPNV)

Zur Präsenzpflicht gibt es von Mediendidaktikern entwickelte, gut erforschte und auch den zwischenmenschlichen Kontakt und das kooperative und kollaborative Lernen unterstützende Alternativen, zumal Schulen nicht der einzige Sozialisationsort für Kinder sind – nur eben derzeit derjenige, mit dem höchsten Infektionsrisiko. Zur Gesundheit und dem Leben der Kinder gibt es dagegen keine Alternative. Deshalb müssen wir Familien während einer Pandemie über die Beschulungsform mitentscheiden dürfen.

Es ist enttäuschend, dass CDU, FDP und AfD während der NRW-Landtagssitzung des Ausschusses für Schule und Bildung am 01.09.2021 allgemein gegen mehr Mitbestimmungsrechte von Schüler:innen und Eltern gestimmt haben, aber in puncto Beschulungsform ist dies während einer Pandemie nicht mehr hinnehmbar. Vor allem nicht, wenn die Kinder ungefragt einer Durchseuchungsstrategie ausgesetzt werden und keine Möglichkeit haben, dieser zu entgehen. Wir haben in den vergangenen Monaten viele Grundrechtseinschränkungen mitgetragen. Aber die weitere Einschränkung des Erziehungsrechts und der Ausübung der elterlichen Verantwortung tragen wir nicht mit. Wenn nach und nach alle Grundrechtseinschränkungen aufgehoben werden, dann muss dies auch für diese gelten. Alles andere ist weder ethisch noch demokratisch vertretbar.

Bitte handeln Sie jetzt. Für die Kinder.

Quellen

1. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-745767.html 

2. https://www.princeton.edu/news/2020/09/30/largest-covid-19-contact-tracing-study-date-finds-children-key-spread-evidence

3. https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30785-4/fulltext

4. https://twitter.com/HenningT6/status/1423254776821731332/photo/1

5. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2021/Corona-Studie_Zwischenbericht02_Maerz2021.pdf

6. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/126034/US-Gesundheitsbehoerde-Delta-Variante-so-ansteckend-wie-Windpocken-trotz-Impfung 

7. https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)01589-0/fulltext?fbclid=IwAR1raPiRztJbT_-tiARmoQ3r8x2uD6-ueRpj-L1tAnd4DZMVmyw_JD254_0

8. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-888281.html 

9. https://www.oekotest.de/kinder-familie/Delta-Variante-in-der-Schule-Warum-Kinder-geschuetzt-werden-muessen_11968_1.html?fbclid=IwAR24f8Uz5am7KC8h1cn1rlud6cj2WhsaiMxXFm8NX_gnlQ-AyMPQz-T-0ME

10. https://www.pharmazeutische-zeitung.de/mehr-corona-spaetfolgen-bei-jugendlichen-erwartet-124633/?fbclid=IwAR0iEtFEWXWQJxYsGBmN7vX9ZNNrVDg4cV0Bja0_Fs0yVyJDxuvJ6EktkuE

11. https://www.rnd.de/politik/corona-lauterbach-warnt-vor-massenexperiment-an-eigenen-kindern-6GL75KWJVZELRBOEPUFH4WQ5UY.html

12. https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/id_90431186/corona-impfstrategie-forscher-warnen-vor-generation-chronischer-kranker.html 

13. https://www.news4teachers.de/2020/10/ich-teile-die-in-der-pressemitteilung-aufgefuehrte-meinung-nicht-wie-die-kmk-das-ergebnis-einer-expertenanhoerung-zu-luftfiltern-in-schulen-verzerrt/

14. https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Welche-Corona-Regeln-sind-an-Schulen-in-SH-sinnvoll,bildungsausschuss104.html

15. https://www.researchsquare.com/article/rs-798316/v1

16. https://www.bmj.com/content/374/bmj.n2157

17. https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/depressionen-und-entzuendungen-besteht-ein-zusammenhang.html

18. https://www.nature.com/articles/s41587-021-01037-9

19. https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(21)00198-X/fulltext 

20. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Klinische_Aspekte.html

21. https://ashpublications.org/bloodadvances/article/4/23/6051/474421/Evidence-of-thrombotic-microangiopathy-in-children 

22. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bildung-in-deutschland-bildungsministerin-karliczek-kritisiert-die-langsame-digitalisierung-der-schulen/27559890.html?ticket=ST-1566930-AfpAPiOzHYMTRX6hIGdI-ap1

23. https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(21)00084-5/fulltext 

24. https://www.alz.org/aaic/releases_2021/covid-19-cognitive-impact.asp 

25. https://www.sciencedaily.com/releases/2021/07/210716112443.htm 

26. https://www.aappublications.org/news/2021/08/31/covid-myocarditis-risk-children-083121

27. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/apa.15870 

28. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.05.07.21256539v1 

29. https://link.springer.com/article/10.1007/s00259-021-05528-4 

30. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.05.07.21256539v1 

31. https://www.england.nhs.uk/2021/06/nhs-sets-up-specialist-young-peoples-services-in-100-million-long-covid-care-expansion/ 

32. https://www.kinderaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/kanadische-studie-etwa-6-der-infizierten-kinder-entwickeln-long-covid/#:~:text=26.07.2021-,Kanadische%20Studie%3A%20Etwa%206%25%20der%20infizierten%20Kinder%20entwickeln%20Long%20COVID,Studie%2C%20die%20auf%20dem%2031

33. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-long-covid-kinder-jugendliche-100.html 

34. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/122760/Psychologen-sorgen-sich-um-Coronafolgen-fuer-Kinder-und-Jugendliche

35. https://www.uniklinikum-jena.de/kinderklinik/Patienten+_+Zuweiser/Zentren+_+interdisziplin%C3%A4re+Einrichtungen/Post__+Long_Covid+19+Ambulanz+f%C3%BCr+Kinder+und+Jugendliche.html 

36. https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Neue-Ambulanz-fuer-Long-COVID-bei-Kindern-in-Muenchen-419695.html?fbclid=IwAR1DzQukN47D0NyJRawGdhEUFLT19VHHSF3qjg9MTXgOMNp_6XiNkpw7LEw  

37. https://www.uk-augsburg.de/kliniken-und-institute/kinderklinik-augsburg-mutter-kind-zentrum-schwaben/klinik-fuer-kinder-und-jugendmedizin/long-covid-bei-kindern-jugendlichen.html

38. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-888281.html 

39. https://www.england.nhs.uk/2021/06/nhs-sets-up-specialist-young-peoples-services-in-100-million-long-covid-care-expansion/ 

40. https://www.divi.de/aktuelle-meldungen-intensivmedizin/besorgniserregende-studienergebnisse-mediziner-warnen-vor-versorgungsnotstand-in-deutschen-kinderkliniken

41. https://www.scinexx.de/news/medizin/corona-infektion-veraendert-unsere-blutzellen/

42. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33904234/ 

43. https://www.alz.org/aaic/releases_2021/covid-19-cognitive-impact.asp 

44. https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589-5370(21)00324-2/fulltext 

45. https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2021-08/corona-schule-ansteckung-quarantaene-eltern-sorgen-bericht?utm_medium=sm&utm_referrer=facebook&utm_term=facebook_zonaudev_int&utm_source=facebook_zonaudev_int&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.ref.zeitde.redpost_zon.link.sf&utm_content=zeitde_redpost_zon_link_sf&utm_campaign=ref&fbclid=IwAR1kDPn86S78vLy6EDtEgzXJYFht9DT0N–OodhNIZrJnOD-6I3zdBw-0qY

46. https://web.archive.org/web/20070610180336if_/http://www.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/4session/
A.HRC.4.29.Add.3.pdf

47. https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_bildung.pdf

48. https://publikum.net/delta-variante-teststrategie/?fbclid=IwAR2_i4ogZNafk56-Vq_xZpWp5LlpXFNPVXW91c0MYvnp5SrrNdgeMzdmwmA